n Website-Titel
B u c h b e s p r e c h u n g e n  a u s

g e s e l l s c h a f t s k r i t i s c h e r   S i c h t



 

Home | Kontakt | Impressum


B u c h - R e z e n s i o n  zu:

 

V. M. Heins, F. Wolff

Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft

Verlag Suhrkamp, 20223

 
 „In der Sehnsucht dieser Menschen spiegelt sich das Bild, das die Europäische Union von sich selbst pflegt. Sie möchte in den Augen der Welt unwiderstehlich sein. Die EU verkörpert, in den Worten des ehemaligen französischen Außen- und Europaministers Jean-Yves L Drian, eine »echte humanitäre Macht«, mehr noch, das hoffnungsvolle »Projekt eines neuen Humanismus«. Die daraus entstehende Anziehungskraft soll aber nicht dazu führen, dass immer mehr Menschen sich tatsächlich angezogen fühlen und auf die Idee kommen, in Europa leben zu wollen. Darum errichtet die EU an ihren Grenzen bedrohliche Infrastrukturen, die all jene abschrecken sollen, die mit dem Gedanken spielen, ohne die entsprechenden Papiere einzureisen oder einzuwandern. Europa ist hin- und hergerissen zwischen dem Streben nach globaler Attraktivität und der Angst vor den global Einwanderungsbewegungen, die doch die Folge seiner Attraktivität sind. Aus dieser Spannung zwischen einem Sinnbild von Hoffnung und der Vergeblichkeit der Hoffnung ergibt sich der erste große Widerspruch, in dem sich die EU bewegt.“

Das Streben nach globaler Attraktivität kann sich gerade nicht darauf beziehen, dass einfach so Fremde von weit her ihr Interesse an einem besseren Leben meinen in Europa verwirklichen zu können. Dazu steht ja gerade im schreienden Gegensatz dazu, dass Europa ein regelrechtes Abschreckungsregime gegen Auswanderungswillige errichtet. Also zielt das Attraktive darauf, was Europa mit auswärtigen Ressourcen und Fremdlingen gemäß seinem eigensinnigen Interesse anzufangen gedenkt. Deswegen geht der behauptete Widerspruch der Autoren völlig daneben, die EU würde sich als begehrtes Lebensumfeld anpreisen und zugleich die Gegenwehr gegen Einwanderungsbewegungen organisieren.

„Der zweite Widerspruch liegt darin, dass einige Mitgliedsstaaten der Union aus ökonomischen und demografischen Gründen eine sozial breitgefächerte Einwanderung brauchen, aber wenig tun, um diese auch zu ermöglichen. Die bestehenden Einwanderungsprogramme beschränken sich auf hochbezahlte Berufe und Bildungseliten. Die Mehrzahl der Migrationswilligen hat somit keine andere Wahl, als entweder zu Hause zu bleiben oder mithilfe von Schleusern riskante Umwege zu suchen und aufwändige und unsichere Asylverfahren zu durchlaufen.“

Die Behauptung eines zweiten Widerspruchs liegt ebenso daneben: Wo kommt denn die Vorstellung her bzw. wer legt es sich so zurecht, dass Europa eine „breitgefächerte Einwanderung“ bräuchte? Das sind nichts als Ausmalungen der Autoren oder Stimmen außerhalb der Regierenden, die letzteren eine zu engstirnige Einwanderungspolitik vorhalten. Dass sich die bestehenden Einwanderungsprogramme so ausnehmen, wie sie sind, offenbart gerade, dass die Regenten Europas auf ihre absolute Souveränität bestehen, ob und wofür sie fremdes Volk am Maßstab nationalen Nutzens hereinzulassen gedenken.

„... Die Einwanderung aus den kinderreichen und wirtschaftlich schwachen Regionen des Globalen Südens, aber eben auch aus anderen Teilen der Welt, in den zunehmend kinderlosen und wohlhabenden Norden wird somit weitergehen. Nicht nur, weil im Süden Ursachen für die Abwanderung fortexistieren, sondern auch, weil es im Norden einen realen Einwanderungsbedarf gibt, der sich auf makabre und paradoxe Weise mit massiven Abschottungstendenzen und tödlichen Grenzsicherungen verbindet.“

Die Autoren reißen die Ursachen von Fluchtbewegungen mit dem Hinweis auf „wirtschaftlich schwache Regionen“ an, ohne weiter darauf einzugehen, welche Not die Leute nach Europa treibt – und daneben wird ein Einwanderungsbedarf des Nordens, ja wohl ganz nach dessen souveränem Ermessen konstatiert. Und schon wieder wird eine angebliche Paradoxie in die Welt gesetzt, wenn zugleich Abschottungstendenzen ins Feld geführt werden. Die Autoren wollen nicht begreifen, dass Europa erst mal von den Flüchtlingen grundsätzlich nicht behelligt werden wollen, die nämlich aus ihren Erwägungen des Überlebens oder besser ausgemalten Lebens die Flucht antreten, was gerade nicht auf der Rechnung Europas steht: die kommen eben hierher, ohne dass sie in Europa ausdrücklich erwünscht sind. Ob und nach welchen Kriterien andersherum selektiv nach Ausländern Bedarf angemeldet wird, wollen Europa und ihre Regierungen sich in unbedingter hoheitlicher Verfügungsmacht vorbehalten.

„In Deutschland fällt dabei auf, dass in dem Land, das jahrzehntelang kein Einwanderungsland sein wollte, obwohl es faktisch längst eines war, inzwischen auch Konservative wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die »klassischen« Einwanderungsländer wie die USA als Vorbilder empfehlen. Wenn man genauer hinhört, wird die Vorbildfunktion allerdings vor allem darin gesehen, dass sich die US-Regierung das Recht vorbehält, nach ausschließlich selbstgewählten nicht verhandelbaren Kriterien zu entscheiden, wer im Land gebraucht wird und wer nicht – ohne Rücksicht auf den Willen und die Bedürfnisse potenzieller Migranten –, und mit Blick auf ein ganz spezifisches Idealbild der erwünschten Gesellschaft.“

Die Autoren bemerken anhand der US-Einwanderungspolitik, wie einseitig die Regierenden dort nach den von ihnen reklamierten nationalen Notwendigkeiten die Brauchbarkeit von Fremdlingen taxieren und dass darin kein Platz für die Bedürfnisse von Migranten ist. Statt dies mal als diese migrantenpolitische Gemeinheit zu nehmen, die es darstellt, wollen sie nicht davon ablassen, dass irgendwie auf die Nöte von Migranten Rücksicht genommen werden müsste.

„Im Herzen des europäischen Projekts steckt die Idee, dass die freie Binnenmobilität eine europäische Lebenswelt ermöglichen solle. Doch die Tore im Innern Europas sind nicht für alle offen und nicht einheitlich weit geöffnet...“

„Die freie Binnenmobilität“ gibt es nicht zur Ermöglichung „europäischer Lebenswelt“, sondern hat entscheidend zu tun mit der Entschränkung konkurrenzlerischen Wirtschaftens zwischen den Mitgliedsstaaten der EU: freier Kapital-, Waren und Personenverkehr als Mittel, als Wirtschaftsblock unvergleichlich ökonomische Wucht zu entfalten. Einfach nach eigenem Gusto die Bewegungsfreiheit zwischen den EU-Staaten sich angelegen sein zu lassen, ist nicht vorgesehen; schon gar nicht gilt dies für unwillkommene Migranten; für die ist nach der EU-Räson der freie Personenverkehr tabu. Keine Kritik der Autoren daran, wie die „Binnenmobilität“ auf den Zweck des Wirtschafts- und Währungsbündnisses bezogen ist, die grenzüberschreitende Freisetzung der Konkurrenz als Waffe zur Hebung des ökonomischen Potentials nicht zuletzt im Hinblick auf andere Weltwirtschaftsmächte einzusetzen, nämlich mit denen gleichzuziehen, wenn nicht sogar wirtschaftliche Überlegenheit gegen diese herzustellen. Stattdessen wird sachwidrig eine Ungleichbehandlung in Bezug auf die Bewegungsfreiheit moniert, die nämlich nicht für alle gelten würde.

„An den Außengrenzen der EU wiederum entdeckt die nationale Politik ausgerechnet im Prozess der partiellen Aufweichung der europäischen Binnengrenzen die Einwanderungskontrolle als das letzte Bollwerk staatlicher Souveränität...“

Wenn man jenseits der Zielstellung des europäischen weltmächtigen Konkurrenzprojekts und damit unter Absehung davon, dass die EU sich genau deswegen die Freiheit des geschäftlichen Verkehrs hat einfallen lassen, von „Aufweichung der europ. Binnengrenzen“ redet, dann entdecken die Autoren einen nicht vorhandenen Widerspruch zur „Einwanderungskontrolle als das letzte Bollwerk staatlicher Souveränität“ – als ob es nicht drauf ankommt, wofür die Souveränität in Sachen Fluchtbewegungen eingesetzt wird und wofür im zwischenstaatlichen Verhältnis der EU-Mitglieder sehr souverän auf einiges an einzelstaatlicher Autonomie verzichtet wird.

Die Autoren wollen nicht die ganze Härte und Gemeinheit staatlicher Flüchlingsabwehr so zur Kenntnis nehmen, wie damit ein globale Ordnungspolitik gegen Migranten und ihre Herkunftsländer ins Werk gesetzt wird, von einem Produkt der weltweiten kapitalistischen Erschließung, die die Massen der 3. Welt zu den erbärmlichsten Lebensverhältnissen verurteilt, die die zur Flucht veranlassen, diejenigen Metropolen, die eben das Copyright darauf haben, davon nicht behelligt werden wollen. Stattdessen beherrschen sie die billige Tour, daraus ein positives Abziehbild zu verfertigen und auf menschenfreundliche Migrantenpolitik zu setzen – dazu bekräftigt mit dem spleenigen Einfall, dass letzlich das „repressive Grenzregime“, das Hochziehen von Mauern der „liberalen Demokratie“ selbst schaden würde:

„...plädieren wir... dafür, die Institution der Grenze so zu reformieren, dass sie sich den Menschenrechten und dem menschlichen Wanderungsverhalten anpassen, anstatt umgekehrt menschenrechtswidrig das Wanderungsverhalten durch immer restriktivere Regeln zu kontrollieren... Die vielbeschworenen »sicheren Außengrenzen« sind eine gefährliche politische Fantasie. Angeblich »sichere« Grenzen werden mit einem Maß an Zwang und Gewalt erkauft, das letztlich die Freiheit aller gefährdet. Die Gewalt an den Grenzen bedroht nicht nur Migranten, sondern auch die Bürger derjenigen Staaten, die sich hinter Mauern in falscher Sicherheit wiegen – und sich vor falschen Gefahren fürchten.“